Durische Postille

Der klagende Turm
22. Woche des 2. Jahres

Schweren Herzens schritt Elema die Stufen des klagenden Turms im Tal der Geister nahe Sharika hinauf. Der hochaufragende Turm war vor Jahrhunderten während der Zeit der Bruderkriege erbaut worden, um aufständige Schwarzhexer aus den südlichen Provinzen sicher wegschließen zu können. Niemanden gelang jemals die Flucht aus den Gemäuern, da sie mit Zauberkunst und Flüchen versiegelt worden waren, die heute längst in Vergessenheit geraten sind. Gerüchte besagten, dass die Insassen wegen den unablässig und wie irrsinnig heulenden Winden im Tal der Geister ohnehin bald ihren Verstand verlören.
Doch nicht der Turm belastete Elemas Gemüt - trug sie doch das Amulett der Unschuldigen bei sich, das sie vor den Mächten des Turms und seiner Gefangenen schützen sollte. Vielmehr beschäftigte sie das Zusammentreffen mit einem besonderen Insassen.

Zu dem Infernal der Winde gesellten sich vereinzelt Schreie und irres Gelächter, das so abrupt abriss, wie es einsetzte. Die Laterne leuchtete nur wenige Meter der mit Schimmel überzogenen Mauern des Treppenhauses aus und doch glaubte Elema, aus den Augenwinkeln Schatten zu erkennen, die sich entgegen dem Flackern der Kerze bewegten. Richtete sie ihr Augenmerk auf eine solche Stelle, war jedoch nichts zu erkennen. Hin und wieder zuckte sie zusammen, wenn ihr Tropfen von der feuchten Decke auf den Kopf schlugen. Die Schwüle und der Modergeruch nahmen mit jedem Schritt in die Höhe zu und wurden bald unerträglich. Und doch war ihr Weg noch weit: Bei der letzten Besprechung vor dem Aufbruch aus Sharika hatte einer der schweigenden Wächter ein Pergament hervorgeholt, auf dem die Umrisse des Turms zu sehen waren. Der Wächter hatte auf die Spitze des Turms getippt und Elema hatte verstanden: Dort hatten die schweigenden Wächter Tephos eingekerkert. Dort musste sie hin, um ein letztes Gespräch zu führen.

Elema konnte bald nicht mehr einschätzen, ob sie nun schon mehrere Stunden oder gar Tage über die verfallenen Stufen der Wendeltreppe schritt, stetig vorbei an eisenbeschlagenen Eichentüren. Hinter einigen dieser Türen war ein Kratzen zu vernehmen. An eine Tür wurde von innen geklopft, als wollte ein Gast höflich Eintritt in das Treppenhaus erbitten. Wieder andere Durchgänge waren zugemauert. Elema hielt nicht an. Niemand konnte ahnen, was hinter diesen Türen seit Jahrhunderten lauerte.

Schließlich endete die Treppe vor einer Wand. Linker Hand war eine letzte Tür im Kerzenschein auszumachen. Zwischen scheren Mauersteinen lag die Tür im Schatten. Kein Schloss und keine Klinke waren zu erkennen. Auf Augenhöhe war eine verzogene Fratze mit einem eisernen Ring im Maul angebracht – ein Türklopfer. Elema nahm das Amulett in die Linke, schloss die Augen und atmete tief ein. Dann klopfte sie seicht mit dem Ring gegen die Eichentür. Das Klopfen wurde von den schimmeligen Mauern verschluckt. Nichts geschah. Doch nach einigen Augenblicken öffnete sich die Tür einen Spalt breit.

Elema trat in die Kammer. „Tephos?“ Sie erhielt keine Antwort. Auch der schwache Schein der Laterne offenbarte nur zerkratzte steinerne Bodenfliesen und geschwärzte Wände.

„Warum bist du gekommen?“ Die Stimme klang zischend und feindselig, erinnerte kaum an die voll tönende Stimme des ehemaligen Herrschers.
Elema schritt in die Richtung der Stimme. Endlich enthüllt das tanzende Licht einen Thron aus schwarzem Stein. Auf ihm saß – an schwarze Ketten gebunden – Tephos, das wachende Auge, und sah Elema mit leeren Augenhöhlen an.
„Sie haben dich geblendet!“ Tephos schwieg.

Elema versuchte, sich zu beherrschen. „Du hast deine Strafe erhalten. Deine Taten haben unser Reich an den Abgrund geführt, weg vom Licht, hinein in die Dunkelheit. Und doch bist du von meinem Blut. Also kam ich, um dich zu fragen, ob du deine Taten bereust? Vielleicht kann dir Gnade gewährt werden, vielleicht dieses elende Schicksal an diesem verfluchten Ort beendet werden.“

Tephos verzog den Mund zu einem Grinsen, das in Anbetracht seiner gesprungenen Lippen und fehlenden Augen eher einem Zähnefletschen ähnelte. „Nein, deswegen bist du nicht gekommen.“

Lange schwieg Tephos ehe er fortfuhr: „Du bist gekommen, weil du noch immer noch immer nach Rat suchst. Rat in einer Stunde, in der die Zeichen der beginnenden Finsternis heraufziehen. In einer Stunde, in der sich fremde Armeen mit ungewisser Absicht horten. In einer Stunde, in der deine Götter schweigen. Du suchst Rat, bei dem, der sich mit der Dunkelheit eingelassen hat. Bei dem, der nicht wie ein Insekt gefangen unter einem Kelch herumirrt – panisch, ohne Ausweg, ohne Wissen über die Welt außerhalb des Kelchs.“

Elema zuckte zusammen. „Woher weißt du davon?“

„Ich war dort. Ich habe das Orakel gesehen und im Wasser der Kavernen kniend auf die Stimme der Götter gewartet.“

„Das ist ein Sakrileg! Die Karvernen des Orakels sind verboten. Niemand darf dort hinuntersteigen. Nur die, die seit ihrer Geburt als Medium auserwählt war. Ich.“

„Und doch hat mich niemand aufgehalten. Ich wollte mit eigenen Augen diesen Platz sehen und die Weissagungen erfahren, die du erfahren hast. Nicht mehr nur die ausführende Hand, die Befehle überbracht bekommt, vielleicht falsch, vielleicht fehlinterpretiert, vielleicht absichtlich verkürzt. Der Neid sollte ein Ende haben. Dein Einfluss sollte schrumpfen. Schließlich hätte ich dich nicht mehr gebraucht. Und diese Welt mit Hilfe der Dunkelalben unter meinen Füßen zertreten.“

„Oh wärest du nur in den heiligen Wassern ertrunken!“

„Aber das bin ich nicht. Doch tröste dich: Auch zu mir haben die Götter nicht durch das Orakel gesprochen.“
Wieder schwieg Tephos.

„Nicht die Götter. Etwas anderes hat zu mir gesprochen. Das Orakel vibrierte, als die Stimme zum ersten mal wie ein Flüstern ertönte. Dann wurde das Raunen lauter und immer lauter. Ich bäumte mich auf unter den Wogen, die mit aller Macht gegen mein Bewusstsein brandeten. Ich fürchtete, mein Geist würde zerreißen, einfach vergehen unter der Macht dieser Wort, die ich vernahm. Das Orakel selbst bekam Risse. Doch schließlich wurde ich ruhig und alles erschien mir klar und deutlich vor Augen. Die Stimme war vergangen und mit ihr die Macht des Orakels. Geblieben ist die Statue eines Gesichts in einem unterirdischen See. Nichts sonst.“

Elema hatte zu zittern begonnen.

„Doch nicht die Abwesenheit der Götter solltest du fürchten. Das Licht schwindet, die Schatten wachsen. Das Böse ist erwacht, und unaufhaltsam wird es wie eine Flutwelle alles zermalmen. Und alle, die ihm nicht folgen. Alle, die Leib und Leben nicht geben, um ihm zu dienen. Sein Sieg wurde von langer Hand geplant, der Plan ist in der Ausführung. Die Pest im Süden, das Grauen in den Wäldern, das Cheton“ Tephos spie die Worte nun förmlich aus „all dies sind die Vorboten einer Macht, die sich kein Sterblicher vorstellen kann. Und bei ihrem Anblick wird alles vergehen - all jene werden vergehen, die dem Licht hinterher kriechen. Wie du, liebe Elema. Du und deinesgleichen, ihr werdet zu Asche verbrennen.“

Elema schritt rückwärts aus dem Raum, nur weg von der Kreatur, die sich gegen seine Ketten warf und immer lauter schrie.

„Und ich werde meine Rache bekommen für deinen Verrat. Warte nur ab!“

Elema rannte nun die Stufen des Turms hinunter. Weg von dem, was einst ihr Bruder war. Weg von der letzten Weissagung des Orakels.

(Gerücht)