Durische Postille

Vernehmet den Willen der Ewigen Esche
24. Woche des 2. Jahres

Etwas abgeschieden von den anderen Lagern des Bündnisses gegen die Cheton-Drachin hatten die Wüstenelfen der Tho’delka ihre schwarzen Zelte aufgeschlagen. Etwas unheimlich und jedenfalls traurig wehten die Weisen mit dem Wind, der von ihren Lagerfeuern zu jenem Hügel herübergetragen wurden, auf welchem die Orks der Draût Kûhl und die Goblins von Nargashtal ihre Freudenfeuer entzündet hatten, und ihren Sieg feierten.

Während sich die Orks und Goblins nicht in ihrer Euphorie stören ließen, war die Stimmung im Lager der Shâsnadar hinter dem Hügel deutlich gedrückter. Die Klagelieder der Wüstenelfen – oft genug war kaum zu erkennen, ob ein langgezogener Ton tatsächlich gesungen war, oder einfach nur der Wind dieses Geräusch verursachte, wenn er durch die verbrannten Reste der Pinien auf den Höhenzügen des Emirwalles strich.

Hauptmann Cyrfranc war dem General der Keltaraun durchaus dankbar für den Wein aus den Ländereien an der Küste. Sicher war er mit einer verbrannten Gesichtshälfte vergleichsweise glücklich davongekommen, zu viele seiner Leute hatten heute weniger Glück. Nicht dass er sich etwas anmerken ließ, aber nach den drei Gläsern des guten Tropfens waren die Schmerzen fast schon erträglich geworden.

„Und während wir hier gegen das Cheton verbrennen, wird im Norden Krieg geführt um Ländereien, um Macht, um Einfluss. Damit Herrscher noch mehr an sich raffen können. Eure Ländereien, Cyrfranc, und auch die der Tho’delka, grenzen an Tel Torak, den neuesten Zankapfel im ewigen Streit darum, wer letzlich Durien im Kampf gegen das Cheton führen wird. Sagen sie zumindest alle. Während die also darum streiten, wer führt um gegen das Cheton zu kämpfen, führen wir den Kampf gegen das Cheton. Und keiner wird es uns danken.“

In diesem Moment bemerkten Hauptmann Cyrfranc und der General der Keltaraun die drei schwarz verschleierten Gestalten an ihrer Seite. Eine der drei zog ihren Schleier zur Seite, legte ein spitzes Kinn und eisgraue Augen frei. „Erlaubt, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist San D’Jezen D’Artalach, der neue Hohe Rat der Tho’delka hat mich zu seinem Sprecher ernannt. Seid Zeugen der Entscheidung dieses Rates, der die letzten Wochen Aussagen der Nachbarn unseres Gebietes angehört hat, aber mehr noch die Worte der Händler, Wüstenläufer, Jäger und Tagelöhner unseres eigenen Volkes gesammelt und bedacht hat.“

„Die Ewige Esche, der beständige Baum, sendet uns seinen Heiligen Hymnus über den Wind der Wüste. Interpretiert werden muss dieser täglich aufs Neue, und diese Aufgabe ist eine Verpflichtung für Jahrhunderte. Aber auch Jahrhunderte vergehen irgendwann, und dann ist es so weit, dass die Ewige Esche ein neues Lied singt, der Hymnus sich verändert, dann ist es an der Zeit, einen neuen Interpreten des Heiligen Hymnus zu bestellen. In den Tiefen der Sturmwüste gibt es ein Kloster, das in jeder Generation einen Auserwählten darauf vorbereitet, diese Aufgabe zu übernehmen. In den meisten Fällen ist diese Mühe vergebens, weil der alte Interpret des Hymnus nicht ausgewechselt werden muss. Diesmal war es anders. Das Lied hat sich verändert, der Interpret muss sich also ebenfalls verändern.

Und mit ihm der Hohe Wächterrat. Ich selbst war einer derjenigen, der den Interpreten des Heiligen Hymnus auf seinem Weg begleitet hat, und ich bin es jetzt, der für das Volk der Tho’delka zu Euch spricht.

Viele werden es bemerkt haben, die Tho’delka sendeten in den letzten Wochen missverständliche Signale an diejenigen, die sich als ihre Verbündeten bezeichnen. Die Tho’delka sendeten missverständliche oder auch gar keine Signale an diejenigen, welche die Tho’delka bisher als wohlwollend neutrale Nachbarn betrachten. Ich hoffe sagen zu können, dass die Tho’delka keine Signale an ihre Feinde senden konnten, weil sie keine Feinde haben.

Der neue Hohe Rat – allesamt Elfen, die den neuen Interpreten des Heiligen Hymnus in seiner Reifung unterstützen – hoffte, Zeit zu haben, sich in dieser schnelllebigen Welt zurecht zu finden. Das war uns nicht vergönnt. So wie der Sandsturm schnell und gnadenlos die Unvorsichtigen vernichtet, sahen wir uns mit Krieg an beiden Seiten unserer harten aber geliebten Heimat, der Sturmwüste, konfrontiert.

Im Süden die Bedrohung durch das Cheton, die Drachin und ihre Gefolgsleute, das war einfach. Der Heilige Hymnus, der Wille der Ewigen Esche, leicht zu interpretieren. Krieg gegen das Cheton unsere Antwort.

Im Norden? Der Heilige Hymnus gibt keine Auskunft, wem die Kristallberge gehören sollen, ob der Bund der Alten Weisheit wirklich weise ist, welche Zwerge wohin wandern dürfen, sollen, müssen, können.

Unser Hoher Wächterrat hat in den letzten Wochen beraten, die Aussagen aller, die eine Aussage machen wollten, in Erwägung gezogen, und hat zu einer Entscheidung gefunden:

Was auch immer da im Norden geschieht, wer auch immer mit seinen Taten die Symphonie des Seins zu steuern versucht, darüber gibt der Heilige Hymnus keine Hinweise. Die Ewige Esche, der Baum der Besonnenheit, strebt allerdings den Ausgleich der Kräfte auf Durien an. Deshalb hat der Hohe Wächterrat der Tho’delka entschieden, mit denjenigen den gemeinsamen Weg zu gehen, die heute bewiesen haben, auf derselben Seite zu stehen.

Es sei hiermit kundgetan: Beeindruckt haben uns in den letzten Wochen die Goblins aus Nargashtal, die dem Schicksal die Stirn zu bieten vermögen, die aus ihrer dürren Heimat gleich den Wüstenelfen der Tho’delka ihre Stärke beziehen. Wer dem Wind der Wüste widersteht, hat nichts zu befürchten. Beeindruckt haben uns die Orks der Draût Kûhl, die jedem neuen Tag mit dem Trotz ins Auge blicken, jedes ihnen in den Weg geworfene Hindernis überwinden zu können. Beide Völker beweisen einen Willen zum Leben, der trotz mancher trauriger Melodien der Ewigen Esche die Hoffnung gibt, dass einige junge Völker gewillt sind, mit Trotz und Mut den Herausforderungen unserer Zeit ins Auge zu blicken.

Beeindruckt haben uns die Nebelherren der Keltaraun, die es vermögen, bedächtig und überlegt jede an sie gerichtete Frage geduldig und wissend zu wälzen und letztlich weise zu beantworten. Im Gegensatz zum enttäuschenden Schweigen unseres elfischen Brudervolkes, das die „Alte Weisheit“ für sich beansprucht.

Aus diesem Grund hat sich der Hohe Rat der Tho’delka entschieden, dem Weg seiner Vorgänger zu folgen, und den Bund der Môr Kishai zu erneuern. Tho’delka, die Sturmwüste, kann sich keine besseren Verbündeten wünschen, als die genannten Reiche, die erst heute wieder bewiesen haben, dass das gemeinsame Ziel, die Wahrung des Gleichgewichtes der Welt, über allen anderen Überlegungen steht.

Beeindruckt haben uns aber auch die Orks des Vorx-Myzels, mit denen in den letzten Wochen, auch ohne dass irgendwelche langen Worte nötig gewesen wären, auf derselben Seite gekämpft haben, gegen Schlangenbrut aus den Tiefen der Tunnels unter der Wüste, wie auch gegen die Ausgeburten des Chetons. Als die schimmligen Orks mögen sie verrufen sein, wir sehen ihre Taten, und handeln entsprechend. Mögen sie immer in unseren Ländern willkommen sein.

Beeindruckt hat uns die Opferbereitschaft der Shâsnadar, eines edlen Volkes, welches trotz seiner kriegerischen Vergangenheit, Überfällen von Piraten, Zwergen, aktuellen Verwerfungen an seiner Grenze, die eigentliche Gefahr, nämlich das Cheton, nie aus den Augen verloren hat. Wer in einer solchen Umgebung die Größe beweist, einen guten Teil seiner Truppen in den Süden zu entsenden, statt kurzfristig seinen Vorteil in einem Krieg an seiner Grenze zu verfolgen, hat unsere Hochachtung verdient.“

Mit diesen Worten zog der Gesandte der Tho’delka wieder seinen Schleier vors Gesicht, und nur wenige Sekunden später erinnerte nichts mehr an seine Anwesenheit, nur ein leises Säuseln des Windes verriet noch die Anwesenheit der Wüstenelfen. Aber wahrscheinlich war das ganz natürlich immer da, bläst stetig den Hügel hinunter, von der Sturmwüste kommend die Hänge des Emirswalls hinab.

Môr'Kishai Tho'delka