Durische Postille

Gehört in den Tiefen der Westsichlinger Berge
13. Woche des 3. Jahres

Laut hallten ihre Schritte durch die Gewölbegänge. Längst hatten sie die tiefsten offiziell bekannten Keller der alten Festungsanlage hinter sich gelassen, doch der nur spärlich vom flackernden Fackelschein erhellte Gang schien kein Ende nehmen zu wollen. Finster und abweisend blickten die hünenhaften Stauen, welche alle Dutzend Schritt an den mit arkanen Glyphen verzierten Säulen des in den Fels getriebenen Ganges ihre ewige Wacht hielten, den in die Finsternis vordringenden Menschenzug an. Dies waren sie also: Die Wächter von Kharan, die versteinerten Helden des ersten Drachenkrieges, deren Bestimmung nun dem Schutz des Innersten Zirkels der verborgenen Magierfestung galt. So zumindest die Legende. Vielleicht waren es aber auch nur in den Stein gehauene Abbilder altertümlicher Krieger und Zauberer, die etwaige Eindringlinge nervös machen und Diebesgesindel abschrecken sollten.

Obwohl er eigentlich nicht als Eindringling gelten sollte – zumindest hoffte er das – verfehlten die Statuen ihre Wirkung nicht. Selbst er, Meister des dritten Kreises, Kenner der rhythanischen Formeln von Ak’krabar, Initiierter des Unsichtbaren Lichtordens von Khaal und, nicht zuletzt, Dozent und Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte telekinetische Zauberei (II-IV), konnte eine gewisse Nervosität nicht abstreiten. Schuld hieran war aber natürlich wieder einmal dieser unmögliche Dekan. Statt die rituellen Formeln des Schutzes zu intonieren und so zumindest für ausreichende Vorsichtsmaßnahmen (oder wenigstens eine weihevolle Stimmung) zu sorgen, summte dieser erzmagische Einfaltspinsel ein dümmliches Gassenlied. Es war schlicht zum Verzweifeln. Als der letzte Leiter der Hohen Schule der Arkanen Künste eines viel zu frühen und womöglich nicht ganz natürlichen Todes gestorben war (das Turmzimmer des Alten war späteren Berichten zu Folge Opfer einer spontanen Selbstentflammung mit anschließender Explosion geworden), hatte niemand aus dem Collegiumskreise den Mumm gehabt, sich zum Nachfolger küren zu lassen. Zu sehr sorgten sich die Dozenten der Akademie, in dem hitzig geführten Kampf um den Dekanshut selbst den Neid eines heimlichen Konkurrenten herauszufordern und Opfer eines „nicht aufklärbaren Unfalls“ zu werden. Niemand hatte den Mut gehabt, vor zu treten. Bis auf diesen Hofnarr von einem Zauberer, Carolus „den Gelben“. Schon bei dem Gedanken an den verhassten Dekan überkam Magister Rotharian ein unwilliges Schütteln. Niemand hatte geglaubt, dass sich der bis auf den zum Pferdeschwanz gebundenen Haarkranz glatzköpfige, stets in hellgelbe Gewänder gewandte und mit fernelfischen Klimbim-Symbolen behangene Weltenbummler und ‚Rucksackmagier’, wie er sich selbst im Scherz nannte, sich lange an der Spitze der Schule würde halten können. Doch die Hollerheider Frohnatur erwies sich bald als offenbar unverwüstlich: Auch Dutzende von mehr oder minder verhüllten Unfälle hatten der notorischen Fröhlichkeit des völlig naiven wie burschikosen Gutmenschen nichts anhaben können – stets war er bei sich anbahnenden Unglücken wie durch höhere Fügung rechtzeitig beiseite getreten, hatte sich rechtzeitig geduckt oder hatte einen ausnahmsweise einem anderen den Vortritt gelassen, meist sogar demjenigen, der die Falle gestellt hatte...

Rotharian fluchte innerlich. Es war einfach nicht gerecht. Dieser Hanswurst von einem Erzmagier und Akademieleiter brachte mit seinen exzentrischen Teezeremonien, der khandarischen Knochenwerferei und altelbischen Entspannungstänzen noch den ganzen Stand der Magierschaft in Verruf! Jahrhundertelang hatte sich die Durkirche gemüht, die Magier im Reiche zu verteufeln, die Bevölkerung blickte mit Furcht und Schrecken, aber wenigstens mit Respekt zu ihnen auf. Und nun kam dieser panflöteträllernde Scharlatan mit seinen aus aller Welt zusammengesammelten, völlig profanen Erinnerungskrempel (mit Grausen erinnerte sich Rotherian etwa an das süddurische Wickelgewand, welches ihm der spärlich bekleidete Dekan einst voller Stolz präsentiert hatte) und missachtete die seit Äonen überlieferten Regeln der Magierschaft und ihre Symbole der arkanen Macht.
„Frischen Wind“, nannte der Gelbe das, und „Abschied nehmen von überfrachtetem Aberglauben und verstaubtem Plunder“. Denn Magie, die nicht den Menschen diene, so die Überzeugung des selbsterklärten Praxismagiers, die solle „gefälligst zum Cheton fahren“... Bei den heulenden Hunden des Weltenkerkers von Gor’Kattak – hatte man so etwas schon gehört?! Mit den richtigen Formeln und in den richtigen Händen war der „staubige Plunder“, welcher seit Jahrhunderten in den Mauern der Akademie gehortet wurde, machtvoll genug, einen Heer von Orkanen zu befehligen!

„Wir lagen vor O-sim-bar und hatten nur Schnaps an Bord“, erklang es fröhlich von der Spitze des Zuges. Rotharian wollte schier platzen. Selbst in den Blutroten Katakomben der Magierfeste, welche sie soeben passierten, schien dem Erzmagier jeder Sinn für Mysterien und Tradition zu fehlen. Statt der hier angebrachten sieben rituellen Beschwörungen von Bel’Hrraz stimmte der Wandermagier nun also Seemannsgesänge an... Rhotarian wagte nicht, zu seinem Nebenmann zu blicken, zu sehr fürchtete er, dieser könnte den Zorn in seinen Augen sehen und ihn beim Dekan denunzieren, um seine Stellung zu schwächen. „Unter Deck stank es nach Zwergen – über die Reling sprang mancher sofort!“, tönte es weiter und mit stillem Entsetzen meinte Rhotarian, ein leichtes Schunkeln bei den vermummten Fackelträgern festzustellen, welche den Zug begleiteten.

Endlich hatten sie ihr Ziel fast erreicht: der Gang weitete sich in ein dunkles Gewölbe, dessen hohe Decke nicht mehr auszumachen war. Am gegenüberliegende Ende war die „Letzte Pforte“ auszumachen – ein übermannsgroßes Tor aus in Drachenodem gehärtetem Stahl, in welches tausend Augenpaare eingesetzt waren. Ob die Augen tatsächlich von den trollischen Heeren stammten, welche in grauer Vorzeit die Magierfeste bestürmt hatten, oder eben nur täuschend echt aus zahllosen Edelsteinen gearbeitet waren – Rhotarian war es gleich. Beeindruckt blickten er und die übrigen, ebenfalls unter dunkelroten Roben verborgenen Magier des Zuges auf das vor ihnen liegende Tor, welches sie von ihrem Zielort, der Geheimen Kammer von Ka’al, trennten. Selbst dem immerfröhlichen Carolus schien es angesichts dieses Ortes die Sprache zu verschlagen. Hier würde der Dekan nun die geheimen Worte der Macht flüstern, welche so wohlbehütet waren, dass sie seit Urzeiten nur von einer Spektabilität zur nächsten weitergerecht wurden.

„Dann woll’n wir mal das Sprüchlein aufsagen, auf dass der alten Knarztüre die Augen auf und übergehen, wie? Hoffentlich sind die Scharniere nicht zu stark verostet – wir müssten sonst den Hausmeister nochmal nach hochschicken, um ein paar Klumpen Schmierfett zu holen...“, lachte der Erzmagus in die andächtige Stille.

Rhotarians Gesicht verfärbte sich unter seiner Kapuze so sehr, dass dunkle Rottöne sich variierend abwechselten. Innerlich zählte er langsam bis hundertunddreizehn.

Als der kleinwüchsige Erzmagus sich schließlich vorbeugte und die magischen Worte sprach, durchwehte ein hallendes Wispern die Katakomben. Rumpelnd und knarrend öffneten sich die Türflügel allmählich, Staub und Nebel stiegen auf. Hinter diesen Pforten ruhte das wichtigste Artefakt der Hohen Schule für Bewegungs und Austreibungsmagie. Seit vielen Jahrzehnten war es nicht mehr benutzt worden. Ob die alte Magie, welche in ihm ruhte, noch immer lebendig war? Und ob es seinen Zweck erfüllen und rechtzeitig jene zusammenbringen würde, welche sich geschworen hatten, der sich ausbreitenden Dunkelheit mit festem Willen und dem Mut der Verzweiflung entgegen zu treten? Als sich eine blau leuchtende Kugeln an der Spitze von Deakn Carolus’ Magierstabs manifestierte und den vor ihnen liegenden, von dampfenden Nebelschwaden verhüllten Raum erhellten, hielt Rhoterian den Atem an. Angespannt starrte er in die Finsternis und versuchte, im blau fluoreszierenden Licht der Fackel erste Konturen zu erkennen...

(Gerücht)