Opus veritatis scientiaeque

Der Schwarze Limbus    

 

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Aus den 'Gesprächen Rohals des Weisen über Ethik und Moral' (XI.)

Auszüge aus dem gleichnamigen Kollektan
aller der Rohalszeit entstammenden Bände 
der 'Gespräche Rohals des Weisen' 
in freier Transkription, 
verfasst in der Sprache des Volkes, 
getätigt durch Lizentiatus Vitus Ehrwald,
Abgänger der Herzog-Eolan-Universität zu Methumis,
so geschehen im Jahre 2515 Horas zu Gareth 
mit gnädiger Unterstützung des Pentagontempels 
der Herrin Hesinde

Über die Tugenden

Meister, sagt, was meint ihr, wenn ihr von Tugend redet?

Alle Tugenden haben in allen Kulturen das gemein, dass sie stets entweder euch selbst oder anderen nützlich oder angenehm sind. Der ethische Wert einer Handlung wird nicht dadurch geschmälert, dass ihr selbst Freude dabei empfindet. Darum ist Keuschheit ebenso wenig eine Tugend wie Unterernährung, denn Tugend besteht nicht in der Abwesenheit von Leidenschaften, sondern in ihrer Kontrolle. Genau das ist es, was ein tugendhaftes Leben so schwer macht, denn es ist leichter, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr Maß zu halten. Bemüht euch nach Kräften, tugendhafte Menschen zu werden; das wird einige Leute zufrieden stellen und die anderen in Erstaunen versetzen. Doch seid stets wachsam, denn der schlimmste Missbrauch ist der Missbrauch des Besten. Angebliche Stärke des Charakters ist oft nichts weiter als eine Schwäche des Gefühls, und so mancher meint, ein gutes Herz zu haben, und hat nur schwache Nerven.

Über die Freude und den Nutzen

Meister, sagt, wenn alle Tugenden entweder angenehm oder nützlich sind, ist das Streben nach Freude und Nutzen dann auch immer tugendhaft?

Freude und Nutzen sind die grundlegenden Ziele menschlichen Handelns. Doch legitim sind sie nur auf die Menschheit, nicht auf den Einzelnen bezogen. Nie sollt ihr euch daher zum Erreichen dieser Ziele verleiten lassen, euch unlauterer Mittel zu bedienen oder Umstände in Kauf zu nehmen, die dem Prinzip der Ethik entgegen laufen. Gebt acht, dass ihr sinnlichen Genuss nicht mit wahrhaft erfüllender Freude verwechselt, denn echtes Glück erwächst nicht aus dem, was ihr habt, sondern aus dem, was ihr seid. Eure eigenen Interessen schätzt nicht höher als die Interessen anderer, denn das Leben in ihnen ist ebenso wertvoll wie das Leben in euch. Achtet auch stets darauf, dass nicht Wenige zu Gunsten der Freude oder des Nutzens Vieler ungerecht behandelt werden, denn dies wäre ein bei weitem zu hoher Preis, den wahrhafte Ethik nie zu zahlen bereit ist.

Über den Genuss

Meister, sagt, wie unterscheidet sich sinnlicher Genuss von wahrhafter Freude?

Genuss ist das sinnliche Empfinden von Glück, Freude hingegen ist Glücklichsein. Um Genuss zu empfinden, braucht ihr stets etwas, das ihr genießen könnt, das euch als Mittel für den Zweck des Genussempfindens dient. Wahrhafte Freude hingegen ist nicht so sehr ein gefühlsmäßiger Zustand, als vielmehr ein den ganzen Menschen umfassender Zustand des Seins und erfordert nichts weiter außer euch selbst. Ein schmackhafter Braten mag euch sinnlichen Genuss bereiten, wahrhafte Freude jedoch wird sich bei seinem Verzehr nicht einstellen, denn der Teil von euch, der nicht am sinnlichen Genuss teilhat, den ihr betäuben müsst, um überhaupt genießen zu können, kann nicht darüber glücklich sein, dass ihr als Objekt eures Genusses ohne Not ein ehemals lebendes Wesen verzehrt. Genuss und Freude stehen nicht in Widerspruch, doch nur, was ihr als ganzer Mensch bewusst genießen könnt, ist wirklich von Wert.

Über die Schönheit

Meister, sagt, wie kommt es, dass wir bestimmte Dinge als schön empfinden?

Schönheit ist das Versprechen des Glücks und keine Eigenschaft der Dinge, sondern deren Wirkung auf euch als harmonisches Ganzes. Schön kann alles sein, das ihr mit Liebe betrachtet, und diese Art der Schönheit, die dem Lebenden inne wohnt, ist auch von Dauer. Einen Regenbogen, der eine Viertelstunde lang steht, schaut ihr nicht mehr an, doch der Schönheit des geliebten Wesens an eurer Seite wird die Gewohnheit niemals etwas anhaben können. Um euch stets an der Schönheit, wo immer sie euch begegnet, erfreuen zu können, müsst ihr lernen, den Augenblick jenseits der Bedeutung von Vergangenheit und Zukunft zu genießen und jedem Tag die Möglichkeit zu geben, der schönste eures Lebens zu werden. Hütet euch daher vor andauernder Schwermut, die euch den Blick für das Schöne zu rauben vermag. Es ist in Ordnung, einmal schlechte Laune zu haben, doch nur solange es nicht im Grunde die schlechte Laune ist, die euch hat. 

Erschienen in Opus no. 111 am 10.6.2001 als Reaktion oder Fortsetzung zu Aus den 'Gesprächen Rohals des Weisen über Ethik und Moral' (X.).
Zu diesem Artikel erschien folgende Reaktion oder Fortsetzung: Aus den 'Gesprächen Rohals des Weisen über Ethik und Moral' (XII.).

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