Aus den 'Gesprächen
Rohals des Weisen über Ethik und Moral' (V.)
Auszüge aus dem gleichnamigen Kollektan
aller der Rohalszeit entstammenden Bände
der 'Gespräche Rohals des Weisen'
in freier Transkription,
verfasst in der Sprache des Volkes,
getätigt durch Lizentiatus Vitus Ehrwald,
Abgänger der Herzog-Eolan-Universität zu Methumis,
so geschehen im Jahre 2515 Horas zu Gareth
mit gnädiger Unterstützung des Pentagontempels
der Herrin Hesinde
Über die Jugend
Meister, sagt, ist die Jugend wahrhaft bereit für Ethik, oder muss der Mensch erst zur Reife gelangen, bevor dauerhaft ethisch er handeln kann?
Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Kinder widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer. Und doch ist das Schlechteste, was ihr über die Jugend sagen könnt, dass ihr nicht mehr dazu gehört. Die Menschen und die Gurken taugen nichts, sobald sie reif sind. Was ihr gewöhnlich als Reife an einem Menschen zu sehen bekommt, ist resignierte Vernünftigkeit. Deshalb hütet euch davor, jemals ganz erwachsen zu werden! Das große Geheimnis ist, unverbraucht durchs Leben zu gehen. Bewahrt euch die Ideale der Jugend, denn in ihnen sind das Wissen und die Kraft darum, wie der Mensch sein soll. Lehrt eure Kinder nicht, ihre Ideale zu Gunsten der Wirklichkeit aufzugeben, sondern in sie hinein zu wachsen, auf dass das Leben sie ihnen nicht mehr zu nehmen vermag.
Über die Erziehung
Meister, sagt, wie sollen wir unsere Kinder erziehen, auf dass sie ethische Menschen mit einem gefestigten Charakter werden, deren Ideale den Widrigkeiten des Lebens standzuhalten vermögen?
Auf drei Wegen sollt ihr eure Kinder erziehen: auf dem des Denkens, dem des Fühlens und dem des Handelns. Sprecht ihr Herz an, und ihr werdet sie für das Denken empfänglich machen. Lehrt sie das Denken, nicht Gedachtes, und sie werden zu Erkenntnis gelangen. Helft ihnen, aus ihrer Erkenntnis Taten werden zu lassen, und sie werden richtig handeln. Lasst sie sich im richtigen Handeln üben, und sie werden ethische Menschen werden. Um ihr Herz anzusprechen, lasst sie das Leben selbst in einem Maße erfahren, das sie bewältigen können. Um ihren Geist zu schärfen, vermittelt ihnen Bildung und den Umgang mit dieser. Um sie zum Handeln zu bewegen, seid als Lehrmeister stets ein gutes Vorbild. Und um all dies zusammenzuhalten, baut auf Liebe, Respekt und Vertrauen.
Über die Bildung
Meister, sagt, was versteht ihr unter wahrhafter Bildung?
Hohe Bildung könnt ihr dadurch beweisen, dass ihr komplizierte Dinge auf einfache Art zu erläutern versteht. Bücher, die nicht geschrieben werden, damit man daraus lerne, sondern damit man nur wisse, dass der Verfasser etwas gewusst hat, sind von geringem Wert. Wissen ist Macht, doch wahrhaft gebildet ist, wer weiß, wo er findet, was er nicht weiß. Darum übt euch nicht darin, viel zu wissen, sondern darin, viel zu denken. Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. Habt den Mut, euch eures eigenen Verstandes zu bedienen und wisset, wo eure Grenzen liegen! Der Gebildete treibt die Genauigkeit nicht weiter, als es der Natur der Sache entspricht. Er ist im Besitz von Ideen, nicht jedoch von Ideen besessen. Und denkt daran: Wer das Denken zur Hauptsache macht, kann es darin zwar weit bringen, aber er hat doch den Boden mit dem Wasser vertauscht, und irgendwann wird er ertrinken.
Über den guten Lehrmeister
Meister, sagt, was zeichnet einen guten Lehrmeister aus?
Ein guter Lehrmeister macht alles so einfach wie möglich, aber nicht einfacher. Er kennt den Wandel der Zeit und wandelt sich mit der Welt. Wer sich an seine eigene Kindheit nicht deutlich erinnert, ist ein schlechter Erzieher. Darum, wenn ihr ein gutes Vorbild abgeben wollt, setzt eurer Tugend eine Unze Narrheit hinzu! In euch muss brennen, was ihr in anderen entzünden wollt. Seid authentisch und folgt auch selbst den Regeln, die ihr aufstellt! Die meisten Menschen sind durchaus gewillt, etwas zu lernen, doch nur die wenigsten, sich belehren zu lassen. Bemüht euch daher stets, Ideen in den Menschen zu wecken, statt sie ihnen bloß vorzutragen. Lang ist der Weg durch Lehren, kurz und wirksam durch Beispiele. Eine gute Rede soll das Thema erschöpfen, nicht die Zuhörer. Darum redet, worüber ihr wollt, aber nie über eine halbe Stunde. Schätzt Fragen ebenso hoch wie Antworten und steht dazu, selbst unvollkommen zu sein.
Erschienen in Opus no. 105 am 23.4.2001 als Reaktion oder Fortsetzung zu Aus den 'Gesprächen Rohals des Weisen über Ethik und Moral' (IV.). |