Getreulicher Reisebericht aus dem
fernen Maraskan
Wie die geneigte Leserschaft des Opus in der vorletzten Ausgabe
vernehmen konnte, weilte ich für eine geraume Zeit nicht an der Academia
Limbologica. Ich befand mich auf einer Forschungsreise im fernen Maraskan,
auf einer Insel, die in vielerlei Hinsicht den Tod bedeuten kann, die
jedoch auch höchst interessante, vor allem philosophische Fragen
aufwirft. Ich möchte nun dem geschätzten Leser in diesem Artikel von
einem sonderbaren Ereignis berichten, welches mir widerfuhr:
Ich weiß jetzt, da ich wieder hier an der Akademie bin, nicht mehr mit
Sicherheit zu sagen, ob ich träumte oder wachte, ob dies alles nur
Einbildung war oder ob es tatsächlich so geschehen ist, aber ich denke,
dass es auf jeden Fall wert ist, erzählt zu werden.
Ich befand mich auf der Flucht vor den Schergen des verfluchten Haffax.
Nur mit Not war ich aus dem letzten Dorf entkommen, wo man mir bereits
aufgelauert hatte. Ein Pfeil hatte mich am linken Bein getroffen und ich
war am Ende meiner Kräfte, sodass ich die Wunde nur mehr notdürftig
verbinden konnte. Ein Heilkundiger hatte mir noch wenige Tage zuvor einige
Kräuter verkauft, welche den Schmerz stillten, sich aber auch leicht
berauschend auf meine Sinne auswirkten. Auf meiner Flucht rannte und
rannte ich, bis ich so erschöpft war, dass ich nichts anderes mehr konnte
als mich auf den felsigen Untergrund zu legen und einzuschlafen.
Am nächsten Morgen wachte ich auf und blickte auf ein ausgetrocknetes
Flussbett. Für einen kurzen Augenblick sah ich einen mächtigen Fluss vor
mir, der sich unaufhaltsam gen Meer dahinschob. Dann war das Bild auch
schon wieder verschwunden und machte dem kargen, felsigen Flussbett von
vorhin Platz. Die alten Bewohner der umliegenden Dörfer nannten diesen
Ort Roab und sie sagten mir, als ich nach dem Weg fragte, dass ich den
Fluss Roab queren müsse. Sie nannten ihn weiterhin Roab, den Fluss, und
jeder, der hier vorbeikam, konnte deutlich sehen: Hier war einmal ein
Fluss, hier war einmal Wasser. Doch das Wichtigste an einem Fluss,
sein Wasser, war nicht mehr da.
Ich erinnerte mich an ein Gespräch, welches ich vor langer Zeit einmal
mit einem maraskanischen Priester geführt hatte. Damals hatte er mir erklärt,
dass seine Priesterschaft all jenen, die mit dem Bethanier gemeinsame
Sache machten, ihre Menschlichkeit, ja sogar ihr Dasein als Mensch
abgesprochen hätte. Ihre Namen, so sagte er weiter, wären aus dem
"Buch der Anwesenden" gestrichen worden. Damals hatte ich nicht
verstanden, was er meinte, aber jetzt begann ich zu verstehen:
Wie ein Bach, wie die Pflanzen und Tiere, brauchen auch die Seelen eine
Art Wasser: die Hoffnung, den Glauben, einen Grund zu leben. Wenn es dies
nicht mehr gibt, dann stirbt alles in dieser Seele, obwohl der Körper
weiterhin lebt. Und die Leute könnten sagen: Hier in diesem Körper
wohnte einmal ein Mensch.
So wie die Bewohner der umliegenden Dörfer das ausgetrocknete
Flussbett weiterhin Roab nannten, obwohl kein Wasser mehr darin floss, so
nannten sich die Bewohner in Haffaxens Reich auch weiterhin Menschen,
obwohl das Wasser ihrer Seele durch die Zusammenarbeit mit den Dämonenanbetern
versiegt war. Die Priesterschaft der Maraskaner hatte dies bereits früh
erkannt: Mit der Erscheinen des Bethaniers war der Roab gedarbt - den
Fluss gab es also für die Priesterschaft nicht mehr - und die Menschen
auf Maraskan hatten ihr Menschsein verloren - folglich konnte es für die
Priesterschaft auch die Menschen nicht mehr geben.
Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, über solche Sachen nachzudenken.
Ich schüttelte den Kopf, um wieder klare Gedanken fassen zu können.
Meine Verfolger konnten nicht weit sein und ich musste sehen, dass ich den
ohnehin geringen Vorsprung nicht verspielte. Doch abermals erinnerte ich
mich an das Gespräch mit dem maraskanischen Priester: Wozu sich vor dem
Tode fürchten, wenn meine Seele ohnehin wiedergeboren wird?
Seltsamerweise gab mir dieser Gedanke eine gewisse innere Ruhe. Ich bräuchte
nur auf Haffaxens Soldaten warten. Kommen würden sie zweifellos, denn es
gab nicht viele Orte, wohin man sich hier flüchten konnte.
Ich nahm meinen Wasserschlauch und ließ einen Schwall Wasser meine
ausgetrocknete Kehle hinabrinnen. Einige Raben kreisten am Himmel,
Pflanzen wuchsen unbeirrbar aus dem steinigen, sonst unfruchtbaren Boden.
Einer der Raben flog herab und ließ sich ganz in meiner Nähe nieder. Und
auch eine Eidechse hatte es sich auf einem Felsen bequem gemacht. Ich
seufzte und schüttelte den Kopf, während ich murmelte: "Ich muss
wahrhaftig in einer aussichtslosen Situation sein, wenn mir der Herr Boron
schon einen seiner Boten schickt." Ich wendete meinen Kopf und sah
zur Eidechse hinüber. Sie blickte in meine Richtung und in ihren Augen
funkelte es. Es war, als wollte sie mir sagen: "Auch hier ist Wasser,
auch hier gibt es Hoffnung und Glaube. Denn was täten wohl sonst Pflanzen
und Tiere an diesem Ort?" Ich lachte, denn ich hatte einer Eidechse
Worte in den Mund gelegt. Oder hatte ich diese Worte tatsächlich gehört?
Ich wusste es nicht mehr. Doch schon sprach die Eidechse weiter, und ich
musste mich bemühen ihren Worten folgen zu können. "Hätte Boron
seinem gefiederten Diener nicht sagen müssen: 'Rabe, es gibt mehr Nahrung
in den Wäldern als zwischen den Felsen und Steinen.' Und hätte Tsa den
Pflanzen nicht auftragen müssen: 'Pflanzen, werft eure Samen fern von
hier ab, denn die Welt ist voller fruchtbarer, feuchter Erde und ihr würdet
schöner wachsen als hier.' Doch weder die Pflanzen noch der Rabe sind
gegangen, sondern sie bleiben hier." Hastig drehte ich meinen Kopf
zur Seite. Die Eidechse verstummte. Ich wusste nicht, worüber ich mehr
verwundert sein sollte: Darüber, dass eine Eidechse mit mir redete, oder
über das, was sie mir gesagt hatte. Es war seltsam; offensichtlich wollte
sie mir Mut machen. Aber ich war in einer aussichtslosen Situation.
Maraskan zu verlassen ohne ein Schiff zu besteigen, das war unmöglich.
Und im Dschungel hätte ich keine Stunde überlebt. "Jeder hat seine
Aufgabe zu erfüllen", sagte da der Rabe. "Die Götter gaben den
Menschen n u r unmögliche Aufgaben." Inzwischen war es mir einerlei,
dass ich hier mit Tieren redete. Es machte ohnehin keinen Unterschied
mehr. In wenigen Stunden würden die Soldaten mich erreicht haben und dann
wäre alles vorbei. Also fragte ich den Raben: "Warum?" Und tatsächlich
antwortete er: "Vielleicht legt der Herr Boron bei jedem Tod und vor
jeder Wiedergeburt Träume in die Herzen der Menschen. Träume, die einer
Sphäre entstammen, in der alles möglich ist. Deshalb scheinen dir die
Aufgaben aus deinen Träumen so unmöglich." "Außerdem",
fuhr die Eidechse fort, "ändert sich die Welt hier auf dieser Insel.
Das Leben wird schwieriger, die Tiere bösartiger, die Pflanzen giftiger.
Doch die Träume und Aufgaben der Menschen ändern sich nicht. Sie werden
nicht angepasst. Vielleicht scheinen deshalb manche Situationen so
aussichtslos." "Aber ich habe bereits meine Aufgabe aufgegeben
und bin nun in dieser Situation verzweifelt. Ich habe an mir selbst
gezweifelt und bin so meiner Aufgabe nicht würdig", erwiderte ich.
Doch der Rabe meinte: "Jeder Mensch hat das Recht an seiner Aufgabe
zu zweifeln und sie hin und wieder aufzugeben." "Was er
allerdings nicht tun darf", fügte die Eidechse hinzu, "ist sie
zu vergessen. Wer nicht an sich selbst zweifelt, ist unwürdig, weil er
seiner Fähigkeit blind vertraut."
Und dann, so plötzlich wie alles angefangen hatte, war es auch wieder
vorbei. Ich saß da, unter mir das ausgetrocknete, steinige Flussbett, und
es war still. Niemand sprach mehr zu mir. Die Eidechse verschwand zwischen
den Steinen und der Rabe erhob sich krächzend in die Luft. Mittlerweile
war es Mittag geworden und von den Soldaten war weit und breit keine Spur.
Konnte das sein, war das alles möglich? Noch einmal sah ich zum Himmel
hinauf und verfolgte den Flug des Raben - er flog zum Meer hin. Doch noch
bevor er aus meinem Sichtfeld verschwand, drehte er einige Runden in der
Luft und ganz leise, wie aus der Ferne hörte ich (s)eine Stimme:
"Und nun steh auf und mache dich auf den Weg..."
Und tatsächlich, nur zwei Tage später fand mich ein Khunchomer
Handelsschiff, das mich sicher in die tulamidische Hafenstadt brachte.
adeptus maior Eborëus Zachariad
von: Philipp Schumacher Erschienen in Opus no. 121 am 16.9.2001. |