Aufnahme der neuen Scolaren an
der Academia Limbologica
Aus der Rede des Lehrmeisters Eborëus Zachariad an die neuen Scolaren:
Mit gestrenger Mine betritt Eborëus den Raum, in dem sich mittlerweile
alle Neuankömmlinge eingefunden haben. Als die jungen Scolaren den adeptus
bemerken, verstummen sie und blicken voll Ehrfurcht zu ihm hinaus. Eborëus
stellt sich zum Rednerpult, verschränkt die Arme, wobei er sich auf das
Pult abstützt, und beginnt mit lauter Stimme und ernster Mimik zu
sprechen:
"Scolaren! Ich möchte mich nicht länger mit einführenden Worten
aufhalten, die ihr ohnehin bereits von den anderen Lehrmeistern zur Genüge
vernommen habt. Ich möchte gleich in medias res gehen und euch einiges
über die kommenden Jahre, die nur manche von euch bis zum Ende hier
verbringen werden, sagen.
Ihr werdet euch während eurer Ausbildung an der Academia Limbologica
etliche Ziele stecken müssen, die ihr nur durch Fleiß und harte Arbeit
erreichen werdet können. Ihr werdet diese Ziele niemals aufgeben und hart
daran arbeiten, dass ihr sie auch immer erreicht. Eure Ziele müssen
Prinzipien sein, Prinzipien des Lebens: Einmal gesteckt und aufgestellt,
dürft ihr sie niemals wieder verändern! ..."
Eborëus legt eine kurze Pause ein, in der sich seine Gesichtszüge
deutlich entspannen, sodass er weitaus freundlicher dreinblickt als zuvor
- dann fährt er mit sanfter Stimme fort:
"So oder ähnlich hätte eine Begrüßungsrede ausfallen können, die euch
an anderen Akademien und von anderen Lehrmeistern vorgetragen worden wäre.
Doch ich möchte nun, dass ihr vergesst, was ich soeben gesagt habe, und
stattdessen möchte ich, dass ihr euch eine Geschichte anhört. Meister
Achmed ibn Mhukkadin al Ghunar, der novadische Lehrmeister, den einige von
euch sicherlich schon kennen gelernt haben, hat uns durch die
unnachahmliche Art und Weise der Tulamiden - äh, ich meine natürlich:
Novadis - des Öfteren schon bewiesen, wie lehrreich Märchen, Mythen, Sagen
und Geschichten sein können. So höret denn über eine Ausfahrt einiger
junger Adepten."
Eborëus verlässt das Rednerpult, schreitet vom Podest herab und setzt
sich mitten in den Kreis der neuen Scolaren. Dann beginnt er zu erzählen:
"Es war einmal eine Gruppe junger Adepten, die eines Tages von der
Residenzstadt Vinsalt aus eine Ausfahrt in die Landschaft unternahmen. Am
Abend, als die Zeit der Rückkunft schon nahe war, fuhr die Reisekutsche,
mit der die vier unterwegs waren, plötzlich langsamer, sodass man glauben
konnte, man habe Vinsalt, ein paar Stunden zu früh, schon erreicht. Es
ruckte einige Male, so als wisse der Kutscher nicht so recht, was er tun,
ob er anhalten oder ob er weiterfahren solle, schließlich aber blieb die
Kutsche auf freiem Feld stehen.
Die harmlose Gesellschaft, die vom Tag müde war, blieb zunächst still.
Einige schlugen die Augen auf, einige machten sie wieder zu und legten die
Köpfe zurück in die gepolsterten Ecken. 'Das Stadttor wird schon
geschlossen sein', sagte einer, als nichts geschah. 'Eine Kuh steht auf
der Straße', meinte ein anderer. 'Typisch Horasreich', sagte der dritte,
der aus Weiden kam.
Aber auf die Frage des vierten zum geöffneten Fenster hinaus, was der
unplanmäßige Halt zu bedeuten habe, sagte der Kutscher, der neben der
Straße die Kutsche entlangging: 'Wir können nicht weiter; die Stadt ist
nicht mehr da, wo wir hin wollten.' "
Erwartungsvoll blickt Eborëus in die Runde, während er die Geschichte
und ihren nicht sofort klar erkennbaren Sinn auf die jungen Scolaren
wirken lässt. Dann erhebt er sich und verkündet mit lauter Stimme:
"Denkt über diese Geschichte gut nach. Überlegt euch, wie es sich mit
euren Zielen verhält, die ihr aufzusuchen oder zu erlangen gedenkt. Nicht
dass es euch eines fernen Tages so ergeht, wie dieser Reisegruppe, deren
Ziel nicht mehr da war, wo sie hin wollte."
Mit diesen Worten verlässt Eborëus den Raum, ein Lächeln im Gesicht ob
der eifrigen Diskussionen im Lehrsaal.
adeptus maior Eborëus Zachariad
von: Philipp Schumacher Erschienen in Opus no. 149 am 7.4.2002. |