Brief der Tsaja von Selem
Als Fortsetzung zu
Die
Psychologie des Chimärs II.
Es fällt mir schwer diesen Brief zu schreiben und ich
erbitte manche Unzulänglichkeit zu entschuldigen.
Die Ausbildung im Lesen und Schreiben welche mir mein Vater Gorgonius
geben wollte konnte er leider nicht zu Ende bringen.
Wie sie sich wohl erinnern können, hatten Freunde meines Vaters ein
Mischwesen zwischen Mensch und Bär in unser Haus gebracht. Mein Vater
behielt das Wesen, mehr aus Forschungsdrang denn aus Mitleid, in
unserem Haus.
Ich jedoch empfand traviagefälliges Mitleid für das Wesen, welches mir gar
so elend und harmlos vorkam.
Oh ihr 12e, hätte ich doch meinen Vater nicht dazu gedrängt das Monster
freizulassen. Anfangs hätte man denken können, es würde uns seine Freiheit
danken, denn es machte keinerlei Unannehmlichkeiten und lernte fleißig.
Mein Vater schöpfte immer mehr Vertrauen, ließ das Wesen auch nachts
alleine im Garten. Natürlich musste ich mir bald komische Blicke der
anderen Mädchen auf dem Markt gefallen lassen, aber insgesamt ging es uns
gut.
Dann jedoch kam dieser verhängnisvolle Tag. Ich war im Tsatempel und
verbrachte dort mehr Zeit als eigentlich angedacht, da ich mit einigen
Freundinnen in ein Gedicht vertieft war. Als ich dann nahe der
Geisterstunde nach Hause lief, regnete es in Strömen und ein ungutes
Gefühl breitete sich rasch in mir aus. Als ich dann an das Tor pochte
öffnete mir niemand. Ich versuchte durch die Fenster einen Blick zu
erhaschen und bemerkte, dass kein Licht war. Dies war hochgradig
ungewöhnlich, denn mein Vater pflegte gewöhnlich bis kurz vor Aufgang der
Praiosscheibe zu studieren und dann lange zu schlafen. So stieg ich an den
Ranken hoch auf den Balkon, da im 2. Stock nur Ölpapier die Fenster
ausfüllte. Im Hause angekommen erschreckte mich die Stille. Nicht das es
bei uns sonst sehr laut war, aber die es gibt eine Stille die mehr ist als
das Fehlen von Geräuschen, das wurde mir in dieser Nacht klar.
Langsam ging ich runter ins Erdgeschoss und da lag mein Vater. Der
Kerzenständer war ihm aus der Hand gefallen und ausgegangen.
Sein Kopf war eingerahmt von einer Lache Blut. Gerade versucht das
Unbegreifliche zu begreifen, da schreckte mich ein Geräusch hoch. Dort
stand das Monster, welches ich einmal fast Bruder nannte. Wie toll
schmierte es sich das Blut an seinen Händen immer wieder ins Gesicht und
brüllte jenseits jeder Menschlichkeit. Mit dem Mut einer Tochter wollte
ich mich mit dem Kerzenständer auf ihn stürzen, doch mit einer einzigen
kraftvollen Bewegung schleuderte es mich zur Seite. Als ich wieder zu mir
kam war es ein Morgen der noch mehr Nachtgrau als Sonnenrot aufwies. So
schnell wie mein benommener Zustand es mir erlaubte rannte ich zum Büro
des Büttels - ein herzensguter Mann, welcher sich um alles kümmerte. Auf
sein Anraten setzte ich auch 50 Dukaten aus der Hinterlassenschaft meines
Vater auf die Ergreifung des Untieres aus. Wer es findet, soll es
erschlagen oder es lassen - mir ist es gleich. Nur warne ich euch davor,
euch jemals auf sein unschuldiges Erscheinen einzulassen.
Wenn die Forschungen meines Vaters eines ergeben haben, dann dass der
Geist der Chimären den Niederhöllen verfallen ist. Für kurze Zeit mag sich
das Gute in ihnen regen aber das kann immer eine List sein, drum gehet am
besten nie darauf ein.
Mein Vater hatte mir einmal erklärt, die Chimärenkörper wurden sich
mischen wie Flüssigkeiten. Ist es nicht so, dass ein Gift immer auch die
andere Flüssigkeit giftig macht, egal ob es sich um Wasser, Milch oder
Wein handelt?
Drum erschlagt die Chimären, wo ihr sie seht, denn Tsas Segen liegt nicht
über ihnen.
Mit dieser Bitte möchte ich Abschied nehmen von meinem
Retter aus der Niederhölle der Warunkei, meinen Vater und Mentor und, für
viele, von einem großen Wissenschaftler und Vordenker. Leb wohl Vater
Gorgonius, möge Hesinde dir manche deiner Kühnheiten verzeihen und dich in
ihrem Labyrinth aufnehmen, möge dein Wissensdrang dort mehr belohnt werden
als hier auf der Erde.
Deine Tochter Tsaja, die ihren 16 Geburtstag morgen
alleine feiern muss.
Erschienen in Opus no. 167 am 25.8.2002 als Reaktion oder Fortsetzung zu Die Psychologie des Chimärs II. |