Grundlegung der rahjanischen Liebe
Um die folgenden Ausführungen zur rahjanischen Liebe verstehen und richtig
lesen zu können, bedarf es einiger kurzer Worte an Euch, werten Leser und
werte Leserin: Ich verstehe mich weder als Experte in Fragen der
rahjanischen Liebe (wie ich dies sehr wohl von mir auf dem Gebiete der
Limbo- und Sphärologie behaupten würde) noch als jemanden, dessen Wort in
diesen Belangen das Gewicht und die Autorität der Geweihten der lieblichen
Göttin selbst hätte. Was ich im folgenden versuchen werde darzulegen,
basiert lediglich auf meinen eigenen Gedankengängen sowie auf den
Ausführungen eines Geweihten der Herrin des Rausches.
Vor einigen Jahren nämlich weilte ich zu Forschungszwecken auf den
Zyklopeninseln. Dort durfte ich einer Feierlichkeit im Rahjatempel
beiwohnen, welche mich damals sehr beeindruckte. Dort war es nämlich
durchaus üblich, dass einer der Tempeldiener zu Beginn des Festes eine
kurze Rede in Form eines Vortrags hielt. Doch wo in anderen Landen die
Menschen erst zu den ausgelassenen Feierlichkeiten nach der Rede
erschienen wären, da war die Halle des kleinen Tempels auf den
Zyklopeninseln bis in den letzten Winkel gefüllt mit einer bunten Schar
von Menschen. Und sie alle lauschten dem, was der junge Geweihte der Rahja
ihnen zu sagen hatte - und das obwohl seine Ausführungen einem Vortrag an
der Universität zu Methumis alle Ehre gemacht hätten.
Vor kurzem nun stöberte ich durch meine alten Reiseaufzeichnungen und fand
eben jenen Zettel wieder, auf dem ich damals die Rede des Geweihten in
Stichworten notiert hatte. Und so möchte ich nun der geschätzten
Leserschaft diese wunderbaren Gedanken zur rahjanischen Liebe nicht
vorenthalten:
Es gibt, dessen bin ich mir gewiss, so viele Formen der Liebe, wie es
Menschen gibt, die lieben. Und wenn man bedenkt, dass ein jeder Mensch in
seinem Leben durchaus mehrere Male lieben kann (aber nicht muss), so mag
die Zahl der Liebesformen durchaus auch noch größer sein. Was jedoch über
all diesen menschlichen Formen der Liebe steht, ist die unendliche Liebe
der Herrin Rahja. Und mag es
auch so sein, dass niemals ein Mensch diese Form der Liebe erreichen wird,
so dient sie uns doch als Vorbild, als Richtlinie und als Ziel, dem es
sich anzunähern lohnt.
Wie aber soll denn nun die rahjanische Liebe, jene Liebe also, welche
sich die Herrin für uns wünscht und welche sie uns vorgibt, aussehen?
Im folgenden will ich also nun versuchen, diese rahjanische Liebe in sechs
Hauptgrundzügen zu skizzieren:
(I) Die rahjanische Liebe ist gekennzeichnet durch die Einheit von
sexueller (körperlicher) Leidenschaft und sinnlichem Liebeserleben. Es
besteht keine Trennung zwischen einer tiefen seelischen Verbundenheit und
der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse, nein, diese beiden Aspekte
werden jeder für sich erst durch das Wunder der rahjanischen Liebe und
durch ihre Verbindung zu etwas Höherem. Der Geweihte der Rahja
nannte diese beiden Aspekte in ihrer Vereinigung "geistige Wolllust"
und "sinnliche Seligkeit", und er meinte weiters: "Wenn man sich
so liebt, kehrt auch die Natur im Menschen zu ihrer ursprünglichen
Göttlichkeit zurück. Die Wolllust wird in der einsamen Umarmung der
Liebenden wieder, was sie im großen Ganzen ist - das heiligste Wunder
unserer Herrin; und was für andere nur etwas ist, dessen sie sich mit
Recht schämen müssen, wird für die Liebenden wieder, was es an und für
sich ist, das reine Feuer der edelsten Lebenskraft."
(II) Die rahjanische Liebe beinhaltet die Einheit von Liebe und Ehe.
Denn Liebe, und nur sie, begründet eine wahre Ehe und ist ihr
konstitutives Moment. Die Liebe ist somit die einzig legitime Begründung
einer Ehe, und es wird nur allzu oft darauf vergessen. In allzu
pathetischen Worten brachte der zyklopäische Geweihte der Rahja
diesen Umstand zum Ausdruck: "Ich kann nicht mehr sagen: meine
Liebe oder deine Liebe; beide sind sich gleich und vollkommen eins
- so viel Liebe als Gegenliebe. Es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung
zweier Geister wie auch Körper."
(III) Das rahjanische Liebesideal integriert auch die Elternschaft.
Diese hohe Bedeutung der Elternschaft für die Liebe wird wohl von anderen,
vielleicht auch von den meisten Geweihten der Göttin nicht so deutlich und
klar ausgesprochen oder vertreten. Doch der zyklopäische Geweihte meinte:
"Durch Elternschaft erfährt die durch Liebe gegründete und durch sie
getragene Ehe ihre letzte Vollendung." Worte, die jeder Geweihten der
Herrin Travia alle Ehre
machen. Durch ein Kind werde, so der Geweihte weiter, die Ehebeziehung
zweier Liebender auf die höchste erreichbare Stufe gestellt. Und zudem sei
das Kind "Liebespfand" für jene Zeit, in der Paare den Beistand der
lustvollen Göttin am meisten brauchen.
(IV) Ein hoher Wert wird in der wahren rahjanischen Liebe naturgemäß
auf die Aufrichtigkeit des Liebegefühls gelegt. Alle unheilvollen
Taktiken in der Anbahnung und Erhaltung einer Liebesbeziehung gelten als
verwerflich. All die kleinen Neckereien und die mit phexischer List
ausgeführten Spielchen, welche die Liebe (wieder- oder weiter-)beleben
sollen sind jedoch durchaus erlaubt und erwünscht. Denn für die durch
rahjanische Liebe Verbundenen ist (krankhafte) Eifersucht überflüssig.
In diesem Sinne ist also Treue für die rahjanisch Liebenden
selbstverständlich, denn diese Treue bezieht sich auf die einmalige,
einzigartige und unersetzbare Verbindung von körperlicher und
seelischer Verbundenheit. Der Geweihte sprach dies klar und deutlich aus:
"Weshalb bloß sehen die Menschen in einer tiefen seelischen Verbindung
(ohne körperlichen Anteil) zu einem Freund keine Verletzung der Treue, in
einer lustvollen körperlichen Verbindung (ohne tiefere seelische
Freundschaft) zum Beispiel zu einem Geweihten der Rahja aber sehr wohl
einen Treuebruch?"
(V) Doch auch ermahnende Worte und Kritik an der allgemein üblichen
Form des Traviabundes, eben der ohne rahjanische Liebe, sprach der
Geweihte der Herrin des Rausches offen aus: "Da liebt der Mann in der
Frau nur die Gattung, die Frau im Mann nur den Grad seiner natürlichen
Qualitäten und seiner bürgerlichen Existenz, und beide in den Kindern nur
ihr Machwerk und ihr Eigentum. Da ist die Treue ein Verdienst und eine
Tugend; und da ist auch die Eifersucht an ihrer Stelle. Denn dies fühlen
sie und halten es für ungemein richtig: dass sie stillschweigend glauben,
es gäbe ihres Gleichen viele, und einer sei als Mensch ungefähr so viel
wert wie der andere, und alle zusammen eben nicht sonderlich viel."
Die rahjanische Liebe jedoch ist auf ein einzigartiges Individuum
ausgerichtet, und durch die Verbindung zweier einzigartiger Individuen
gewinnt die Liebe ihre Einmaligkeit. Es können nicht länger einzelne
Qualitäten einer Person sein, die sie mehr oder minder auch mit allen
anderen teilt, die diese Verbindung begründen, sondern nur noch die Person
als Ganzes.
(VI) Vielleicht zuerst etwas trivial mag diese Einsicht scheinen, doch
impliziert sie mehr, als man auf den ersten Blick erkennt: In der
rahjanischen Liebe wird erst die erwiderte Liebe zur eigentlichen Liebe.
An diesem Punkt nämlich setzte der Geweihte der Rahja
seine heftige Kritik an den Liebesformen der Novadis an: "Anders als
bei den Wüstenvölkern in ihrem Irrglauben wird die Frau in der
rahjanischen Liebe nicht nur verehrt und idealisiert in blumigen Worten,
sondern es sind ihre Gefühle genauso wichtig wie die des Mannes."
Es geht in der rahjanischen Liebe immer um die Gefühle und damit um
das Glück beider Personen.
Meister Eborëus Zachariad
von: Philipp Schumacher Erschienen in Opus no. 170 am 29.9.2002. |