Über die Angst und
die Liebe zum Leben...
Dritter Teil der Reihe von Auszügen aus dem Tagebuch des Kriegers Reochaid Ynlais.
Der große Tag war endlich gekommen. Seit dem Morgengrauen schon standen
wir alle auf dem Innenhof versammelt und warteten darauf, dass unser
Schwertmeister die alten, schäbigen Holzschwerter gegen echte, scharfe
Klingen austauschte. Eine ehrfurchtsvolle Stille lag über dem Hof und wir
alle wussten, dass sich heute zeigen würde, ob wir uns gut genug auf
diesen Tag vorbereitet hatten.
Wie jeden Morgen kam der Schwertmeister gemessenen Schrittes auf den Hof
hinaus und wie immer sprachen wir gemeinsam mit ihm ein Gebet zur Herrin
Rondra. Dann nahm er sich vom Holzgerüst am Rande des Platzes ein Schwert
und ging auf den ersten von uns zu. Mit fester Stimme fragte er:
"Stipen, hast du dich auf diesen Tag gut vorbereitet und fühlst du dich
befähigt mit dieser Waffe umzugehen?"
In den Augen des jungen Kriegers konnte man gut erkennen, dass er die
Anspielung des Schwertmeisters auf seine nur nachlässig durchgeführten
Übungen mit dem Holzschwert verstanden hatte. Für ihn, den Sohn eines
Barons - so hatte er mir einmal erklärt - seien diese Spielereien nichts.
Dennoch antwortete er mit einem Kopfnicken. Der Schwertmeister übergab ihm
die Waffe und holte die nächste vom Holzträger. Auch alle weiteren Schüler
fragte er dasselbe, bevor er ihnen die Waffe überreichte, und in den Augen
fast aller konnte ich eine gewisse Unsicherheit, ja sogar ein bisschen
Angst sehen.
Dann war es an mir. Während der Schwertmeister mit der Waffe in der Hand
auf mich zuschritt, tänzelte ich nervös am Platz hin und her. Ich hatte
sämtliche Bewegungen mit dem Holzschwert eingeübt, manchmal sogar über das
geforderte Maß hinaus, und ich hatte alle Ratschläge brav befolgt, aber
dennoch waren mir bei den Kämpfen mit den Holzschwertern schon einige
Fehler unterlaufen. Von den Holzschwertern bekamen meine Gegner zumeist
nur blaue Flecken, aber die scharfen Klingen würden mit unverminderter
Wucht durch das Fleisch schneiden.
Der Schwertmeister war inzwischen an mich herangetreten und fragte mich:
"Reochaid, hast du dich auf diesen Tag gut vorbereitet und fühlst du dich
befähigt mit dieser Waffe umzugehen?"
Ich schluckte schwer und erst nach einigen Augenblicken brachte ich ein
stockendes "J...ja" hervor.
"Aber...?", hakte der Schwertmeister nach.
Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Jeder von uns war sich seiner Sache
nicht so ganz sicher, aber keiner hatte es gewagt seine Befürchtungen zu
äußern. Ein Mangel an Mut galt als etwas, was sich für einen echten
Krieger nicht geziemte. Aber ich konnte nicht anders:
"Ich habe sämtliche Übungen, die ihr uns angeordnet habt, stets
gewissenhaft ausgeführt, und dennoch fühle ich nun Unsicherheit und sogar
etwas Angst davor, mit einer echten Waffe umzugehen."
Alle sahen wie gebannt zu mir her. Ich hatte gesagt, was sich alle
dachten. Aber was würde der Schwertmeister dazu meinen? Er ging einige
Schritte zurück und blickte uns alle mit ernster Miene an - jeden
einzelnen von uns. Und dann sprach er:
"Ihr habt Angst, aber es ist normal in bestimmten Augenblicken Angst zu
haben. Das ist nichts, wofür ihr euch schämen müsstet. Ihr werdet die
Angst auch in Zukunft nicht verlieren - das wird keiner von euch - aber
ihr werdet einen Weg finden, damit umzugehen und im richtigen Augenblick
auf sie zu hören. Angst ist eine der elementarsten Erfahrungen eines jeden
Kriegers, ja eines jeden Menschen: Sie zeigt, dass man das Leben liebt,
das man lebt. Erst wenn ihr diese Angst und damit die Liebe für euer Leben
nicht mehr empfindet, solltet ihr euch ernsthaft Sorgen um euch machen."
aus dem Tagebuch von Reochaid Ynlais
von: Philipp Schumacher Erschienen in Opus no. 144 am 3.3.2002 als Reaktion oder Fortsetzung zu Über den besseren Krieger....
Zu diesem Artikel erschien folgende Reaktion oder Fortsetzung: Über Ehre und Leid....
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