Was ist Wissen?
1. Teil
Wie immer etwas zu spät betritt Meister Eborëus den großen Hörsaal.
Zwischen den größtenteils leeren Bankreihen hindurch schreitet er auf das
Rednerpult zu. Alleine die ersten zwei Reihen sind besetzt. 10
wissbegierige Scolaren haben sich dort eingefunden - das sind mehr, als
der Meister erwartet hatte. Zufrieden lächelnd nickt er den Anwesenden zu.
"Für all jene, die sich hierher nur verirrt haben sollten: Wir befinden
uns in der Vorlesung 'Allgemeine Philosophie' mit anschließenden
'Philosophischen Diskussionen'."
Kurzes Gelächter erschallt, dann wird es wieder ruhig.
"Wir wollen heute unser Thema vom letzten Mal fortsetzen und uns mit der
Frage beschäftigen: Was ist Wissen?"
Suchend wandert Eborëus Blick in die Runde, dann hat er anscheinend
gefunden, was er gesucht hat:
"Dario, erkläre uns noch einmal in kurzen, präzisen Worten die
traditionelle Dreiteilung des Wissens, wie sie heutzutage in der
Philosophie vorgenommen wird und wie wir sie das letzte Mal kennen gelernt
haben."
Der Angesprochene erhebt sich, ganz wie es den Scolaren gelehrt wird -
denn wenn ein studierter Magus etwas zu sagen hat, dann soll er dies laut
und gut vernehmlich tun und so, dass alle ihn dabei sehen und beachten
können - und beginnt zu sprechen:
"Wir trafen die Unterscheidung zwischen 3 verschiedenen Formen des
Wissens. Ad primum das praktische Wissen, scientia practica, welches uns
sagt, w i e wir etwas tun. Dieses Wissen nennt man auch Können oder
Vermögen, auf Bosparano: Posse. Als Exemplum vermag ich das Wissen
anzuführen, wie man schreibt, also wie man Buchstaben auf dem Pergament
formt und wie man sie aneinanderreiht. Ad secundum das phänomenologische
Wissen, scientia phänomenologica, welches uns sagt, wie sich etwas
anfühlt, wobei das Wort anfühlen hier auch wahrnehmen, also sehen, hören
et cetera, bedeutet. Als Exemplum zöge ich das Wissen heran, wie sich
bestimmte Schmerzen anfühlen oder wie eine Perainefrucht schmeckt. Et ad
tertium das propositionale Wissen, scientia propositionalis, welches uns
sagt, d a s s dieses oder jenes der Fall ist. Dies ist jene Form des
Wissens, die wir üblicherweise mit dem Wort 'Wissen' in Verbindung
bringen."
Zufrieden blickt Meister Eborëus auf Dario, seinen besten Schüler. Dann
wendet er sich wieder den anderen zu:
"Nun wollen wir denn fortfahren in unseren Bemühungen, dem Begriff des
Wissens auf die Spur zu kommen. Zuerst bleibt uns einmal zu bemerken, dass
es unmöglich ist, phänomenologisches Wissen exakt zu beschreiben. Ganz
offensichtlich muss jede Beschreibung eines solchen Wissens auf
persönlicher Erfahrung beruhen, also auf subjektiven Wahrnehmungen. Wir
vermögen zwar einen Schmerz als stechend oder pochend zu beschreiben, doch
ist dies nicht mehr als eine richtungsweisende Beschreibung, welche im
Hörer eine Verbindung zu einem ebenfalls persönlich wahrgenommenen Schmerz
erzeugt. Niemals jedoch kann eine solche Beschreibung als exakt gelten in
dem Sinne, dass sie dem Hörer ein solches Bild des Schmerzes vermittelt,
anhand dessen er nach der Beschreibung über das selbe Wissen verfügt wie
derjenige, der den Schmerz erlebt hat. Ein besonders gutes Beispiel ist
dieses..."
Mit diesen Worten kramt Eborëus einen kleinen Beutel aus seiner Robe
hervor, den er vor sich auf das Pult legt und ihn öffnet. Zum Vorschein
kommen einige etwa kieselsteingroße braune Klumpen.
"Dies hat uns Meister Achmed von einer seiner Reisen aus dem Süden
mitgebracht; man nennt es Kakao. Ich möchte nun einen unter euch bitten
herauszukommen und dieses Pulver zu kosten..."
Einer der jüngeren Scolaren erhebt sich und kommt zum Rednerpult, wo er
von Meister Eborëus etwas von dem braunen Pulver in die Hand bekommt. Wie
ihm geheißen, nimmt er das Pulver in den Mund und kostet davon. Nachdem
diese Prozedur beendet ist, bittet Eborëus den Scolaren seinen
Mitschülern s o zu beschreiben, wie das Kakao-Pulver geschmeckt hat,
dass diese danach sagen können, sie wüssten nun, wie Kakao schmeckt, ohne
ihn selbst kosten zu müssen.
Nach kurzer Zeit jedoch geben die Scolaren dieses Unternehmen auf,
bestätigen, dass sie trotz zahlreicher und wortgewandter Beschreibungen
noch nicht über das Wissen verfügen, wie Kakao schmeckt, und nehmen nun
jeder selbst eine kleine Kostprobe. Nachdem sich alle wieder gesetzt
haben, fährt Eborëus fort:
"Wir haben hier also an einem praktischen Beispiel gesehen, dass es sich
mit dem phänomenologischen Wissen nicht so einfach verhält, wie uns die
traditionelle Philosophie glauben lassen will. Denn selbst wenn ich euch
eine genaue Auflistung all jener Elemente geben würde, aus denen dieser
Kakao zusammengesetzt ist, so würdet ihr dennoch nicht über
phänomenologisches Wissen verfügen.
Beschäftigen wir uns aber nun mit den anderen beiden Wissensformen: Das
praktische und das propositionale Wissen stehen miteinander in Verbindung.
Indem ich nämlich praktisches Wissen erwerbe, werde ich zumeist auch
propositionales Wissen erwerben. Dies will ich am Beispiel der Magie
verdeutlichen. Wenn ich beispielsweise den Cantus des Flim Flam erlerne
und ihn dazu auch anwende, dann werde ich gleichzeitig auch erfahren, dass
meine astrale Kraft mit jedem Wirken des besagten Cantus stetig sinkt. Das
heißt also, dass ich einerseits praktisches Wissen - ich bin ja
hoffentlich nach der Lernphase in der Lage den Cantus zu wirken - als auch
propositionales Wissen erwerbe - ich weiß, dass etwas der Fall ist, in
diesem Beispiel also, dass meine astrale Kraft gesunken ist.
Nun wird es uns in dieser Vorlesung und den folgenden Diskussionen
nicht um phänomenologisches Wissen gehen, von welchem wir ja feststellen
mussten, dass es sich durch Worte nicht lehren lässt, und zuerst auch
nicht um praktisches Wissen, welches sich ebenfalls schlecht durch Worte
beschreiben und somit vermitteln lässt, sondern besser durch praktische
Demonstration gelehrt wird. Wir werden uns in erster Linie einmal mit
propositionalem Wissen beschäftigen, welches sich am leichtesten
vermitteln und lehren lässt. Darin liegt im übrigen auch der Grund dafür,
dass ein jeder Scolar in seinen ersten Jahren keinen Zauber zu wirken
lernt, sondern sich mit der Theorie beschäftigt."
"Wenn wir uns also nun in der Philosophie mit Wissen beschäftigen, dann
gebe ich zu bedenken, dass ich im folgenden mit dem Wort 'Wissen' stets
propositionales Wissen meine (Verweis auf den letzten Teil). Es ist nun
aber in keinem Fall Sinn und Zweck der Philosophie, euch konkretes
propositionales Wissen beizubringen. Dies ist die Aufgabe fast aller
anderer Fakultäten und Vorlesungen, die ihr zu Beginn eurer Ausbildung
besuchen werdet. Eine philosophische Frage nach dem Wissen muss sich immer
auf eine allgemeine, eine möglichst universelle Fragestellung beziehen,
welche in diesem Fall also wäre: Was ist Wissen - und was ist kein Wissen?
Wie kann ich also Wissen von Nicht-Wissen oder falschem Wissen
unterscheiden. Auch die Antwort darauf sollte, um philosophisch zu
bleiben, möglichst allgemein und universell sein.
An dieser Stelle bleibt es mir nicht erspart einige Worte zur
philosophischen Vorgangsweise zu verlieren. Nicht nur hier, sondern auch
in vielen anderen philosophischen Fragestellungen werden wir auf eine
Vorgangsweise treffen, welche man einen Zirkel nennt. Es gibt zweierlei
Arten von Zirkeln: den Nandus-Zirkel und den Xeledon-Zirkel.
Ein Beispiel für den Xeledon-Zirkel, auch circulum Xeledonis genannt, wäre
folgendes: Ich weiß, dass vor etwa 500 Jahren Rohal gelebt hat. Werde ich
nun gefragt, weshalb ich dies wissen sollte, dann werde ich in meiner
Vorgehensweise der Begründung sagen: Es ist mir doch vollkommen
einsichtig, es ist logisch, dass Rohal vor etwa 500 Jahren gelebt hat. Ich
gebe also eine erste Begründung dafür an, weshalb ich die Annahme, dass
Rohal vor etwa 500 Jahren gelebt haben soll, für Wissen halte. Hinterfrage
ich aber mein Wissen weiter, frage ich also, weshalb es denn vollkommen
einsichtig ist, dass Rohal vor etwa 500 Jahren gelebt haben soll, dann
brauche ich eine weitere Begründung für meine erste Begründung. Diese
könnte z.B. lauten: Es ist mir vollkommen einsichtig, dass Rohal vor etwa
500 Jahren gelebt hat, weil es mir doch alle halbwegs gebildeten Menschen
bestätigen können. Warum aber sehe ich etwas, was mir der Großteil der
Menschen um mich herum bestätigen kann, als einsichtig an? Weil es für
mich eben vollkommen logisch (oder einsichtig) ist, dass etwas, was der
Großteil aller Menschen bestätigt, für mich einsichtig ist.
Wir sehen schon: Hier wird eine Begründung für eine Sache mit derselben
Begründung wieder begründet.
Es gibt jedoch auch eine Form des Zirkels, also des gegenseitigen
Auf-Sich-Selbst-Beziehens, welche durchaus Sinn macht. Ich nenne sie den
Nandus-Zirkel. Mit einer solchen Vorgehensweise haben wir es hier, in der
Behandlung der Frage des Wissens, zu tun. Wir werden im folgenden nach
einer Begründung, einem Kriterium für Wissen suchen. Dabei werden wir eine
Theorie aufstellen, welche ein Kriterium liefert, was Wissen und was nicht
Wissen ist. Dann werden wir mit konkreten Beispielen diese Theorie testen.
Anhand der Beispiele wird sich erweisen, ob unsere Theorie brauchbar oder
nicht brauchbar ist. Wir können dann anhand von nicht-brauchbaren
Beispielen unsere Theorie ändern, sie wiederum mit Beispielen testen und
sie wiederum ändern. Auch hier liegt ein Zirkel vor, jedoch kein
schlechter, sondern ein fruchtbarer Zirkel, aus dem wir - hoffentlich -
eine immer bessere Theorie des Wissens erarbeiten werden.
wird fortgesetzt...
von: Philipp Schumacher Erschienen in Opus no. 149 am 7.4.2002.
Zu diesem Artikel erschien folgende Reaktion oder Fortsetzung: Was ist Wissen? (2. Teil).
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